Stefan Kirpal & Andreas Kirpal: Friedrich Gernsheim – Violin Sonatas

Jede musikalische Epoche hat ihre Anfangsphase, ihre Blütezeit und ihren Niedergang. Kunst bedeutet steter Wandel und wer versucht das Rad der Erneuerung in der Kunst anzuhalten, der wird daran unweigerlich scheitern. Ich bin wahrlich kein Freund von Anachronismen in der Musik: Alles hat eben seine Zeit..

Auch die große und letzten Endes zeitlich lange Phase der Romantik ging spätestens Anfang des 20. Jahrhunderts unter (wann genau, darüber mögen sich die Musikwissenschaftler streiten). Mit dem Aufkommen der verschiedensten neuen Strömungen in den 1910er und 1920er Jahren (Stichworte: die Zwölftonmusik Schönbergs und seiner Schüler, der Expressionismus des jungen Stravinskys etc.) verliert die rein tonale Romantik zunehmend an Bedeutung (und an Attraktivität beim Publikum und bei Kritikern). Zwar blieb die Spätromantik bis zum 2. Weltkrieg zumindest durch einzelne Figuren (etwa Richard Strauss) erhalten, doch löst diese selbst schon viele Stilmerkmale der Romantik auf und wendet sich beispielsweise der Atonalität zu.

Charles Chaplin: Moderne Zeiten (Modern Times) [Screenshot]Die Dynamik der modernen Zeiten, mit der sich die gesamte Kunst Anfang des 20. Jahrhunderts veränderte, ließ all jene unter die Räder geraten, die diesen Wandel nicht mitgehen wollten (oder konnten). Mehr noch: Was bis vor kurzem noch auf breiter Front gang und gäbe war, wurde komplett abgelegt, weggeschoben, verdrängt, verspottet, vergessen. Viele Komponisten der Romantik, die relativ spät in dieser Epoche geboren wurden und die es bis Ende des 19. Jahrhunderts nicht geschafft hatten, sich wenigstens mit einem Werk im Repertoire der Konzerthäuser dauerhaft festzusetzen, verschwanden spätestens mit ihrem Ableben aus dem öffentlichen Gedächtnis. Dabei war nicht alles was damals verloren ging notwendigerweise schlecht oder ein bloße Wiederholung bekannter romantischer Schemata.

Friedrich GernsheimDer in Worms geborene Pianist, Dirigent, Musikpädagoge und Komponist Friedrich Gernsheim (1839- 1916) ist ein gutes Beispiel für all jene Komponisten, die seinerzeit von der ’neuen Zeit‘ verschluckt wurden. Weil ihm in der Hoch-Phase der Romantik kein „Hit“ gelang, fand sein Spätwerk zu Lebzeiten kaum, nach seinem Tode gar keine Beachtung mehr. Der allgegenwärtige Antisemitismus, der sich in den 1920er und 1930er Jahren zu unheilvollen Exzessen steigern sollte, tat dann noch sein übriges. Gernsheim, einst eine respektable Figur innerhalb der deutschen Musikwelt – immerhin war er ab 1890 Dozent am Stern’schen Konservatorium in Berlin – war ein nur noch ein Name, mit dem spezialisierte Musikwissenschaftler etwas anfangen konnten. Und selbst die nicht viel.

Stefan Kirpal & Andreas Kirpal: Friedrich Gernsheim - Violin SonatasErst jetzt, fast 100 Jahre nach seinem Tod, entdecken engagierte, vorurteilsfreie Musiker Gernsheims romantische Preziositäten wieder. Das mehrfach ausgezeichnete Bruderpaar Stefan Kirpal (Violine) und Andreas Kirpal (Klavier) hat mit ihren Aufnahmen der vier Violinsonaten und einiger anderer Nebenwerke als erstes Duo überhaupt Gernsheims Werk für Violine und Klavier vollständig aufgenommen. Auf der vorliegenden Doppel-CD findet man, neben den vier Sonaten und einem Fantasiestück auch ein charmantes Andante, dass der 14-Jährige Gernsheim geschrieben hatte.

Die beiden Münchener waren bereits 2007 an der Einspielung an der »engagierten und hochkompetenten« Einspielung (so urteilte das Rondo Magazin) der Gernsheim’schen Klavierquartette Nos. 1 & 3 (Brilliant Classics 93997) maßgeblich beteiligt. Andreas Kirpal übernahm das Klavier und Mitglieder des Diogenes Quartett (dem neben Bruder Stefan auch Stefans Ehefrau Gundula Kirpal angehört) übernahmen den Streicherpart.

Was die Kritik seinerzeit bei den Quartetten befand, gilt im selben Maße auch für diese Veröffentlichung: Stefan und Andreas Kirpal spielen kompetent und engagiert diese überaus gelungene, hochklassige romantische Kammermusik, die sich in den frühen Jahren näher an Mendelssohns Stil, in den späten Jahren näher an Johannes Brahms‘ Harmonien und zur formalen Strenge anzulehnen scheint. Gernsheim schrieb keine egozentrischen virtuosen Bravourstücke (obwohl er selbst ein ausgezeichneter Pianist und versierter Violinist war), sondern charmante, überaus stimmungsvolle Sonaten, die den Zuhörer durch bezaubernde Melodien und eine angenehm zurückhaltende Schlichtheit überzeugen. Stefan und Andreas setzen diese Vorgabe klangschön und mit warmen Spiel ohne überspitzte ‚Über-Romantisierung‘ um. Einen besseren Dienst hätte man Gernsheim gar nicht erweisen können.

Ein besonderes Lob verdient bei dieser Produktion sowohl die erstklassige Aufnahmetechnik als auch das zweisprachige Booklet (Englisch/Deutsch), das lesenswerte Informationen zu Leben und Werk Gernsheims und zu den Brüdern Kirpal enthält.

Fazit: Ein wichtiger Beitrag zur musikhistorischen Neubewertung Gernsheims und eine echte Entdeckung origineller, unabgenutzter romantischer Kammermusik.

Musik & Interpretation
Klangqualität
Cover & Booklet

Die Doppel-CD Friedrich Gernsheim – Violin Sonatas von Stefan Kirpal & Andreas Kirpal ist am 29. Juni 2012 bei Brilliant Classics (94403) erschienen und kann im Fachhandel erworben oder bei großen Buch- und CD-Versendern wie  → amazon.de und → jpc.de (Links öffnen die jeweilige Produktseite) bestellt werden.

Inhalt:

  1. Violinsonate No. 1 in c-Moll, op. 4
  2. Violinsonate No. 2 in C-Dur, op. 50
  3. Fantasiestück, op. 33
  4. Violinsonate No. 4 in G-Dur, op. 85
  5. Violinsonate No.3 in F-Dur, op. 64
  6. Andante (1853)

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