Eine Neuaufnahme des Gesamtwerks für Orgel von von Johann Sebastian Bach (1685–1750) ist selbst heutzutage, da es an Bach-Einspielungen wahrlich nicht mangelt, ein besonderes Ereignis. Wer sich dieser Herausforderung stellt, muss sich an einer teilweise beachtlichen Konkurrenz messen lassen: Rund ein Dutzend Gesamteinspielungen sind derzeit als Einzel-CDs oder als Boxed-Sets auf dem Markt, teilweise mit namhaften Interpreten.

Der italienische Organist Stefano Molardi hat sich für seine Reise durch Bachs Orgelwelt vorgenommen, das Hörerlebnis des Musikfreundes in den Mittelpunkt zu stellen. Aus dem Orgelwerk Bachs will Molardi CD für CD eigenständige Recitals zusammenstellen, die die verschiedenen Aspekte der vielseitigen Kompositionen beleuchten. Immerhin macht die Orgelmusik rund ein Fünftel des Bachschen Gesamtwerkes aus und wurde über einen Zeitraum von rund 40 Jahren geschrieben.

Der in der italienischen Instrumentenbauer-Stadt Cremona geborene Molardi ist nicht nur ein anerkannter Organist, sondern auch Cembalist, Dirigent und Musikwissenschaftler, der von der Alten Musik ausgehend sich bis tief ins romantische Repertoire Liszts und Francks vorgearbeitet hat. Von der Kritik wurden seine Aufnahmen des gesamten Orgelwerks Claudio Merulos (für das Divox-Label) und seine CD mit Orgel-Transkriptionen populärer Verdi-Kompositionen (auf Tactus) hochgelobt.

Für seinen Bachzyklus hat Molardi die 1755 geweihte, von Tobias Heinrich Gottfried Trost erbaute Orgel der Stadtkirche ‘Zur Gotteshilfe’ im thüringischen Waltershausen (im mitteldeutschen Stammland Bachs also) ausgewählt. Sie wurde 1998 in ihrer ursprünglichen, spätbarocken Pracht wiederhergestellt und erweist sich als  ideales Instrument, um Bachs Orgelmusik erklingen zu lassen.

Der Ton macht hier buchstäblich die Musik: Anders als bei vielen anderen Orgel-Einspielungen, die ich in den letzten Jahren gehört habe, hat man sich hier für einen ’nahen‘ Klang entschieden. Auf den wahrhaft ‚kathedralischen Nachhall‘, der mir viele Orgel-Aufnahmen der letzten Jahre verleidet hat, wurde hier offenbar bewusst verzichtet. Der Klang der majestätischen Trost-Orgel hat Raum, wirkt nicht zu trocken, verliert sich aber auch nicht in der Architektur der Kirche, sondern bleibt nah beim Hörer. Hört man Molardis bemerkenswert flüssiges und unprätentiöses Spiel, so hat man fast den Eindruck, man würde in unmittelbarer Nähe (aber nicht zu nah!) vor der Orgel sitzen. Nicht alle werden diesen ungewohnt direkten Klang mögen. Die von Simone Belucci mustergültig betreute Aufnahme ermöglichte mir erstmalig die Feinheiten in Bachs Orgelwerken bis ins letzte Detail hören zu können, ohne dass sie sich im Hall der Kirche verlieren. Diese Aufnahmen holen Bachs Orgelmusik aus der Kathedrale ins Wohnzimmer. Der Hall, den jede Orgel zweifelsohne braucht, ist hier sehr fein ausbalanciert. Dazu kommt eine durchdachte Tracklist, die keine Langeweile aufkommen lässt: Virtuose Toccaten wechseln sich mit freien Fantasien und streng kontrapunktischen Triosonaten ab.

Das Booklet enthält detaillierte Angaben (auf Italienisch und Englisch) zu den Werken, die von Molardi selbst verfasst wurden, außerdem eine Künstlerbiografie sowie die Angaben zur Orgel-Disposition. Auf der entsprechenden Produktseite kann man kurze Klangbeispiele aller Tracks anhören.

Fazit: Ein klanglich überzeugender, interpretatorisch durchdachter Auftakt eines vielversprechenden Gesamtaufnahme-Projekts der Bachschen Orgelwerke: Molardi stellt Bachs Musik in den Vordergrund (auch wörtlich genommen) und ermöglicht dank einer klugen Akustik eine ungehinderte Hörerfahrung, die so manches offenbart, was bei anderen aufwendigen Hochglanz-Produktionen vor lauter Klang-Architektur verloren ging.

Die 4-CD-Box Johann Sebastian Bach: Complete Organ Music – Volume I von Stefano Molardi ist am 21. Februar 2014 auf Brilliant Classics (94850) erschienen und kann im Fachhandel erworben oder bei großen Buch- und CD-Versendern wie → amazon.de und → jpc.de (Links öffnen die jeweilige Produktseite) bestellt werden.