Silvius Leopold Weiss (1687–1750) gilt heute als wichtigster deutscher Komponist für Lautenmusik des Barocks. Der älteste Sohn des oberschlesischen Lauten- und Theorbenspielers Johann Jacob Weiss wurde, wie seine Geschwister Johann Sigismund und Juliana Margaretha, schon früh vom Vater unterrichtet. Im Laufe seiner langen Karriere entwickelte Silvius Leopold sich zum letzten bedeutenden Lauten-Virtuosen Europas. Mit über 600 Kompositionen hinterließ er ein beachtliches Vermächtnis. Der Ruhm Weiss’ zu Lebzeiten konnte den Niedergang der Laute allerdings nicht dauerhaft verhindern. Weiss’ Werke gerieten nach seinem Tod schnell in Vergessenheit, zumal sie zum Großteil lediglich als Manuskripte vorlagen. Erst im 20. Jahrhundert wurde sein Œuvre wiederentdeckt und gewürdigt.
Das sogenannte “Londoner Manuskript” ist seit 1877 im Besitz der British Library. Es enthält 26 Solo-Sonaten für Laute und weitere Solo- und Ensemble-Werke, die Silvius Leopold Weiss zwischen 1706 und 1730 komponierte und die zu Lebzeiten nie veröffentlicht wurden. Der Begriff “Sonate” ist hier allerdings nicht im Sinne der Sonatensatzform der Wiener Klassik zu verstehen, vielmehr handelt es sich hier um barocke Suiten mit zumeist sechs Sätzen in Tanzform. Sie zeugen sowohl von Weiss’ virtuosen Fähigkeiten als Musiker als auch von seiner Experimentierfreudigkeit als Komponist: Speziell in seinen späten Werken verwendete er immer wieder verminderte
Septime und enharmonische Wechsel um anspruchsvolle Harmonien zu erzeugen.
Der kanadische Lautenist Michel Cardin hat über einen Zeitraum von zwölf Jahren die Kompositionen des Londoner Manuskripts analysiert und zu spielbaren Fassungen rekonstruiert und editiert. Neben minutiöser Quellenforschung zog er für seine Arbeit weitere Manuskripte und die neuesten Erkenntnisse der Forschung zurate. Cardin betont allerdings, dass er in erster Linie Musiker ist und der musikwissenschaftliche Aspekt seiner Arbeit nicht zwingend notwendig ist, um Weiss’ unvergleichlich kunstvolle Lautenmusik zu genießen. Auf den letzten beiden CDs der Box wird Cardin von der Barockflötistin Christiane Laflamme unterstützt, die bei der Rekonstruktion der Ensemblestücke für Laute und Flöte wertvolle Grundlagen beisteuern konnte.
Die Aufnahmen entstanden zwischen 1992 und 2004 im kanadischen Montréal und erschienen zunächst separat beim Kleinstlabel SNE Records. Einige der Einzel-CDs sind längst ausverkauft und werden teilweise als gebrauchte Tonträger zu Fantasiepreisen angeboten. Cardins Aufnahmen gelten unter Kennern längst als Referenzaufnahmen. Die nun erscheinende Box schließt eine relevante diskografische Lücke und macht sie breiteren Hörerschichten endlich zugänglich.
Das Booklet enthält ausführliche Anmerkungen zum Komponisten, dem Londoner Manuskript sowie Künstlerbiografien. Eine erweiterte Fassung der Liner Notes kann auf der entsprechenden Produktseite auf der Homepage oder → hier heruntergeladen werden.
Die 12-CD-Box Silvius Leopold Weiss: The Complete London Manuscript von Michel Cardin ist am 16. Januar 2014 auf Brilliant Classics (95070) erschienen und kann im Fachhandel erworben oder bei großen Buch- und CD-Versendern wie → amazon.de und → jpc.de (Links öffnen die jeweilige Produktseite) bestellt werden.