Der Magdeburger Georg Philipp Telemann (1681-1767) war ein äußerst fleißiger Komponist. Heute geht man von 3600 verzeichneten Werken aus, darunter 1750 Kirchenkantaten, 16 Messen, 23 Psalmen, über 40 Passionen, sechs Oratorien sowie diverse Motetten und andere geistliche Werke. Sein imposantes Œuvre übertrifft das ja nicht gerade kleine Gesamtwerk seines Zeitgenossen und Freundes Johann Sebastian Bach (1685-1750) um ein Vielfaches, allerdings sind viele von Telemanns Kompositionen verschollen.
Georg Philipp Telemann war zu Lebzeiten ein überaus erfolgreicher Komponist, trotzdem (oder gerade deswegen?) steht Telemanns Werk heute (immer noch) im Schatten des großen Thomaskantors. Das mag viele Gründe haben: Der Wandel des Geschmacks im Laufe der Jahrhunderte und eine „systematische Diffamierung“ (so formuliert es die → Wikipedia treffend) im 19. Jahrhundert, bei der man Telemann man mangelnde Ernsthaftigkeit in der sakralen Musik vorwarf, tragen auch heute noch zum verzerrten Telemann-Bild bei. Man verglich sein Werk mit dem ’schweren, ernsthaften Werk‘ Bachs und ignorierte dabei, dass Telemann in seiner Hoch-Phase sich dem empfindsamen Stil zugewandt hatte, der deutlich moderneren Form damals, die weniger kontrapunktische Strenge und mehr Empfindsamkeit zuließ. In der typisch romantischen Idealisierung des „alten Stils“ Bachs, diffamierte man alles, was diesem Ideal nicht zu entsprechen schien. Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts begannen die Musikwissenschaftler Telemanns Werk noch einmal objektiv anhand von Originalität und handwerklicher Kunstfertigkeit zu beurteilen.
In der Rehe Musica Sacra bei Brilliant Classics ist nun die einzige kommerzielle Aufnahme des Passions-Oratoriums »Das selige Erwägen des bitteren Leidens und Sterbens Jesu Christi«, TWV 5:2 (ca. 1722, Hamburg) des Freiburger Gesangsensembles mit dem Münchener Ensemble L’Arpa festante unter der Leitung von Wolfgang Schäfer wiederveröffentlicht worden. Ursprünglich 1989 für das kleine Label Amati aufgenommen und 2003 schon einmal auf Bayer Records wiederveröffentlicht, ist das Oratorium ein exzellentes Beispiel für Telemanns empfindsamen Stil und Kunstfertigkeit.
Gute Solisten (besonders Stefan Dörr als Petrus und Barbara Locher als Die Andacht), der intime, reine Klang des Münchener Originalinstrumente-Ensembles der Arpa festante und ein lebhafter Chor, der die affektvollen Texte des Librettos (von Telemann selbst geschrieben) adäquat gefühlvoll, aber ohne Überzeichnungen präzise umsetzt, sind die Stärken dieser bemerkenswerten Aufnahme, die einem gut vor Augen führt, wie unterschiedlich man zur selben Zeit in Leipzig, London und Hamburg komponieren konnte. Während uns Händels und Bachs Idiome heute vertraut sind, entführen uns die süddeutschen Musiker dieser Aufnahme in eine musikalisch bislang wenig beachtete Epoche.
Telemanns Passions-Oratorium vermittelt viel vom Religionsverständnis der Menschen in der Aufklärung: Das Didaktische der Rezitativi, die Personalisierung menschlicher Regungen (Der Glaube, die Andacht), die Emotionalisierung der Passionsgeschichte – all das weist auf ein sich wandelndes Gottesbild (vom allmächtigen, strafenden und richtenden Gottvater zum gütigen, leidenden, zutiefst menschlichen Gottessohn) in einer Zeit, in der die Grundlage für die revolutionären gesellschaftlichen Veränderungen des 19. Jahrhunderts gelegt wurden. Somit ist diese Doppel-CD nicht nur ein wertvoller Beitrag in der immer noch sehr lückenhaften Diskografie Telemanns, sondern auch ein Stückchen erfahrbare Kulturgeschichte und darüber hinaus einfach nur eine wundervolle Produktion selten gehörter geistlicher Musik.
Die Doppel-CD Georg Philipp Telemann – Passions-Oratorium · Das selige Erwägen des bitteren Leidens und Sterbens Jesu Christi des Freiburger Vokalensemble mit dem Ensemble L’Arpa Festante München unter der Leitung Wolfgang Schäfer ist in der Reihe Musica Sacra bei Brilliant Classics (94318) am 3. Februar 2012 erschienen und kann im Fachhandel erworben oder bei großen Buch- und CD-Versendern wie → amazon.de und → jpc.de (Links öffnen die jeweilige Produktseite) bestellt werden.
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