In der säkularisierten Gegenwart ist die Wiederbelebung der geistlichen Musik ein bemerkenswertes Phänomen. Zwar nimmt die Bedeutung von Religion (zumindest in weiten Teilen der westlichen Welt) im Alltag immer weiter ab, sakrale Werke finden aber nach wie vor großen Anklang, sei es, weil sie mir ihrem meditativen Grundcharakter eine Art Gegenpol zur immer schneller getakteten Welt darstellen, sei es, weil sie auf unmittelbare Weise die Sehnsucht der Menschen nach Spiritualität erfüllen. Selbst in den Jahrzehnten systematischer staatlicher Unterdrückung im Ostblock konnte man die Jahrtausende alte Tradition der geistlichen Musik nicht ganz unterdrücken. Eine der ältesten Musiktraditionen überhaupt, die wichtigste Grundlage unserer heutigen Kunstmusik, erneuert sich immer wieder neu.
Die vorliegende CD „Mysterious Nativity“ stellt sieben geistliche Werke von fünf Komponisten des späten 20., frühen 21. Jahrhunderts aus dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion vor: die “Three Sacred Hymns” des Russen Alfred Schnittke (1934-1998), das “Magnificat” des Esten Arvo Pärt (*1935), “O salutaris hostia” des Litauers Vytautas Miškinis (*1954), “Mysterious Nativity” und “Sviatyï Boje” des Russen Georgy Sviridov (1915–1998) sowie die “Three Sacred Songs” und das “Ave verum corpus” des jungen ukrainischen Komponisten Dimitri Tchesnokov (*1982). Somit enthält die CD vornehmlich Werke, die von Komponisten stammen, die zumindest innerhalb der sowjetischen Konservatorien ihr Handwerk erlernt haben (oder, wie im Fall Tchesnokovs, in deren direkter Folge stehen). Dennoch sind die Referenzen an die russisch-orthodoxe Kirchenmusik-Traditionen unüberhörbar. Traditionen lassen sich einfach nicht so schnell ausradieren auch wenn sie in ihrer individuellen Neudeutung zu faszinierend unterschiedlichen Ergebnissen führen.
Das erst 2010 gegründete französische Ensemble Les Métaboles unter der Leitung seines Gründers Léo Warynski legt mit dieser CD ein sehr starkes Debüt vor. Der gemischte Chor hat auf „Mysterious Nativity“ ein Programm zusammengestellt, das von der ersten Minute (dem Titelstück „Mysterious Nativity“ von Georgy Sviridov) an zu fesseln weiß. Les Métaboles überzeugen durch klangschöne Stimmen, exzellentes Timing und einen warmen homogenen Ensembleklang. Das sind ideale Voraussetzungen für dieses Repertoire, das ungemein davon profitiert, dass das Material mit vollster Konzentration und dennoch mit einer natürlich wirkenden Andacht (aber ohne falsche Frömmeleien) zum Leben erweckt wird. Thematisch bewegen sich die meisten Werke der CD um Christi Geburt, wobei die Musik eher den metaphysischen Aspekt der Weihnachtsgeschichte, denn die Vorgänge selbst beleuchtet. Les Métaboles gelingt es überzeugend, in die Klangwelt dieser mystischen Auffassung von sakraler Musik einzudringen und damit eine musikalische Tradition wiederzugeben, die nicht im Westen, sondern im Osten Europas verankert ist – und das ist bis zum heutigen Tage keine Selbstverständlichkeit.
Warynski und sein Ensemble arbeiten bereits seit ihrer Gründung mit dem in Frankreich lebenden Ukrainer Tchesnokov zusammen. Diese Kollaboration hat unüberhörbar ein tiefes Verständnis für Tchesnokovs Musik und generell für die Seele osteuropäischer Chormusik geschaffen. Das Ergebnis ist schlichtweg umwerfend und wird durch exzellente Akustik und ein gutes Artwork erfreulicherweise abgerundet.
Fazit: Dies ist – zumindest für mich – die faszinierendste Vokalmusik-Veröffentlichung des Jahres. Die Klangqualität der Aufnahmen ist exzellent, das Artwork geschmackvoll, das Booklet informativ und am allerwichtigsten: Das ausgewählte Material ist von geradezu betörender Schönheit und der junge französische Chor Les Métaboles beeindruckt durch exzellentes Timing, Homogenität und natürliche, klangschöne Stimmen.
Hier noch ein Hörbeispiel:
Die CD Mysterious Nativity: Music for choir by G. Sviridov, A. Schnittke, D. Tchesnokov des Ensembles Les Métaboles unter Léo Warynski ist am 31. Oktober 2014 auf Brilliant Classics (95080) erschienen und kann im Fachhandel erworben oder bei großen Buch- und CD-Versendern wie → amazon.de und → jpc.de (Links öffnen die jeweilige Produktseite) bestellt werden.