Cristiano Porqueddu – Novecento Guitar Sonatas — Gitarrensonaten des 20. und frühen 21. Jahrhunderts

Klassische Gitarre - (cc-by-sa 2.0) Martin Möller (Ausschnitt)Nachdem sich die Gitarre in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch herausragende Gitarristen-Komponisten (Fernando Sor, Dionisio Aguado, Napoléon Coste, Mauro Giuliani, Caspar Joseph Mertz und andere) als virtuoses Solo-Instrument etablieren konnte, erfuhr sie durch die bemerkenswerte Karriere des spanischen Gitarristen Andrés Segovia im 20. Jahrhundert eine abermalige Aufwertung. In gewisser Weise könnte man auch von einer Emanzipation sprechen, denn der „Segovia-Effekt“ (teils seiner Spieltechnik, teils seiner charismatischen Persönlichkeit geschuldet) machte die Gitarre populärer denn je, auch außerhalb ihrer (vermeintlichen!) Heimat Spanien.

Plötzlich war das alte romantische Repertoire für Gitarre wieder gefragt und zahlreiche Komponisten des 20. Jahrhunderts komponierten rund um den Globus neue, zeitgemäße Werke für das Saiteninstrument. Es entstand ein abwechslungsreiches Œuvre, das leider nur wenigen Musikfreunden in seiner Bandbreite bekannt ist, da neues Repertoire es bei der klischeebeladenen Rezeption von Gitarrenmusik (möglichst romantisch, möglichst hispanisierend, unbedingt tonal) besonders schwer hat.

Der italienische Gitarrist  Cristiano Porqueddu widmet sich seit Beginn seiner Karriere ausschließlich dem modernen Repertoire des 20. und frühen 21. Jahrhunderts. Seine strikte Weigerung sich mit dem (aus seiner Sicht) abgenutzten Repertoire für Gitarre zu beschäftigen, das schon unzählige Male aufgeführt, aufgenommen und trivialisiert wurde und seine rastlose Suche nach originellem neuen, zeitgemäßen Material, haben ihn zu einem der Experten für moderne Gitarrenmusik weltweit gemacht.

Cristiano Porqueddu - Novecento Guitar SonatasZum zweiten Mal nach den “Novecento Guitar Preludes” (2012) fasst er bei einer Veröffentlichung Gitarrenwerke nach einer Gattung gegliedert zusammen. Mit „Novecento“ (mit groß geschriebenem N) bezeichnet man auf Italienisch übrigens das 20. Jahrhundert, obwohl Porqueddu hier (streng genommen) auch Kompositionen des 21. Jahrhunderts zu Gehör bringt.

Die 5-CD-Box “Novecento Guitar Sonatas” enthält insgesamt 19 Sonaten von Evgeny Baev (*1952), Gibert Biberian (*1944), Franco Cavallone (*1957), Angelo Gilardino (*1941), Juan Manén (1883-1971), Georges Migot (1891-1976), Miklós Rózsa (1907-1995) und Alfred Uhl (1909-1992), davon sind nicht weniger als 13 Weltersteinspielungen. Als Besonderheit enthält das Album die von Porqueddu selbst komponierte Sonate “Des coleurs sur la toile”.

Bei der Auswahl der Sonaten legte der sardische Gitarrist sein Augenmerk auf Internationalität – die Komponisten stammen aus Russland, England, Italien, Spanien, Frankreich, Ungarn (bzw. den USA) und Österreich – und auf Originalität gelegt. Dabei galt es, Porqueddus hohe technischen und künstlerischen Ansprüchen zu genügen und ein möglichst breites Spektrum der zeitgenössischen Gitarrenmusik abzubilden. Beides ist Cristiano Porqueddu geradezu exemplarisch gelungen, wobei ihm sicher seine engen Kontakte zu zeitgenössischen Komponisten weltweit genutzt haben. Die in der „Novecento Guitar Sonatas“-Box zusammengefassten Werke weisen eine Vielzahl von unterschiedlichen folkloristischen, modernen oder postmodernen Einflüssen auf und überraschen ein ums andere Mal mit überraschenden Rhythmen oder ungewöhnlichen Harmonien.

Cristiano Porqueddu überzeugt durch spieltechnische Finesse und durch Mut zur ungeschönten Musik. Sein Spiel ist betont „unromantisch“: Es kaschiert nicht die Schroffheit einiger Sequenzen (allerdings auch nicht die Anmut einiger anderer Passagen) und will nicht dem Zuhörer gefällig, sondern dem Werk gegenüber ehrlich sein. Extrovertierte, selbstverliebte Posen, süßlicher Manierismus, aufgesetzte Hispanismen und vordergründig klangschönes Spiel sind seine Sache nicht, er bleibt seinem Credo einer modernen, emanzipierten Gitarrenmusik jenseits aller Klischees treu. Bei ihm ‚darf‘ die Gitarre (wenn erforderlich) auch unschön, aggressiv und geradezu erschreckend roh erklingen – mit solcher Konsequenz trauen sich das bis heute nur die wenigsten Gitarristen. Weder die Kompositionen, noch Porqueddus Art Gitarre zu spielen, biedern sich beim Publikum an: Das macht diese Sammlung so einzigartig.

Porqueddu nahm sich Zeit für diese Mammut-Produktion: Die exzellent klingenden Aufnahmen entstanden zwischen Oktober 2012 und Januar 2014 in der kleinen Chiesa della Solitudine im sardischen Nuoro (Italien) und klingen erfreulich direkt und unverfälscht, dabei aber durchaus intim. Ebenso gelungen ist das 20-seitige Booklet, das aufschlussreiche Angaben zu den Werken enthält, die von Porqueddu oder den Komponisten selbst verfasst wurden.

Fazit: Die „Novecento Guitar Sonatas“-Box ist ein must-have für jeden Freund der Gitarre, der jenseits der üblichen Klischees zeitgemäße Musik kennenlernen möchte. Hier gibt es viel zu entdecken. Cristiano Porqueddu erweist sich, einmal mehr, als kompromissloser und gewissenhafter Anwalt einer modernen, emanzipierten Gitarrenmusik der Gegenwart.

Musik & Interpretation
Klangqualität
Cover & Booklet

Die 5-CD-Box Novecento Guitar Sonatas von Cristiano Porqueddu ist am 27. Juni 2014 auf Brilliant Classics (9455) erschienen und kann im Fachhandel erworben oder bei großen Buch- und CD-Versendern wie → amazon.de und → jpc.de (Links öffnen die jeweilige Produktseite) bestellt werden.

Weitere Infos zu der 5-CD-Box Novecento Guitar Sonatas sowie die komplette Tracklist findet man auf der englischsprachigen Produktseite:
http://brilliantclassics.com/articles/n/novecento-guitar-sonatas/

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