Various: Tchaikovsky Edition – Das Gesamtwerk

P. I. Tchaikovsky - Complete Edition (Brilliant Classics)Schon alleine die diskografische Großtat ist eine Würdigung wert: Zum ersten Mal in der Geschichte der Tonaufnahme vereint die Tchaikovsky Edition (nahezu) sämtliche erhaltenen Werke von Pyotr Illyich Tchaikovsky (1840-1893) in einer Veröffentlichung. Es fehlen lediglich die erste Oper „Der Wojewode“ (die allerdings nur noch in einer posthumen Rekonstruktion vorliegt), die „50 russischen Volkslieder“ für Klavier zu vier Händen, außerdem die Transkriptionen und Orchestrierungen, die Tchaikovsky von eigenen Werken und Kompositionen anderer verfasste.

Eigentlich ist es bei der Popularität Tchaikovskys erstaunlich, dass viele dieser Werke seit Jahren, ja seit Jahrzehnten nicht mehr aufgeführt, geschweige denn aufgenommen worden sind. Andererseits wurden andere Werke sehr oft, meiner Meinung nach viel zu oft veröffentlicht, ohne dass es irgendeinen künstlerischen Grund dafür gegeben hätte. Vielleicht hat das Bild, das Vorurteil, das wir von Tchaikovskys Musik haben, viel mit der Auswahl der Werke zu tun, die in der kollektiven Erinnerung verhaftet sind. Nicht einmal die Musik Mozarts oder Beethovens ist wie jene Tchaikovskys (eben in Auszügen) bis zur trivialsten Alltagssituation (im Klingelton, in der Warteschleife, in der Werbung) allgegenwärtig, ja überstrapaziert; andere Kompositionen, die Tchaikovsky vermutlich deutlich wichtiger eingeschätzt hätte, blieben selbst den versiertesten Klassik-Kennern nahezu unbekannt. Jetzt hat man zum ersten Mal die Gelegenheit sich ein umfassendes Bild vom Œuvre des russischen Romantikers zu machen.
Bekannte Werke wie das erste Klavierkonzert oder das Violinkonzert, die Ballettmusiken zu „Schwanensee“, „Nussknacker“ und „Dornröschen“, die drei späten Sinfonien, die Fantasie-Ouvertüre „Romeo und Julia“, das „Capriccio Italien“ und die „Ouvertüre 1812“ auf der einen Seite und Raritäten wie die Klaviermusik, weite Teile der Kammermusik, seine nahezu unbekannten russischen und französischen Lieder oder die frühen Opern „Der Opritschnik“ und „Die Jungfrau von Orléans“ auf der anderen Seite bestätigen und widerlegen gleichzeitig das Klischee von Tchaikovskys Musik, das wir alle im Kopf haben. Tchaikovsky war sicher immer ein Komponist, der in der Lage war die bezauberndsten Melodien zu schaffen, gleichzeitig ist man gerade bei den unbekannten Werken oft von seiner Bescheidenheit überrascht. Tchaikovsky ist beileibe nicht nur der Komponist der großen Gesten wie in der Pathétique, er ist auch der leise Komponist mit Rückgriffen auf Bach oder Beethoven, wie in dem Klavierzyklus „Die Jahreszeiten“.

Pyotr Illyich Tchaikovsky (Portrait von Nikolai Kusnezow)Die bekanntesten Kompositionen liegen hier, dank fünf Bonus-CDs mit russischen Radioarchiv-Aufnahmen, in mehreren Aufnahmen vor, was durchaus Sinn macht: Tchaikovskys Meisterwerke lassen diesen Raum für verschiedene Interpretationen. So gibt es beispielsweise das Klavierkonzert No. 1 in b-Moll in gleich fünf Einspielungen (mit Byron Janis, Lev Oborin, Emil Gilels,Sviatoslav Richter und Evegeny Kissin am Klavier), das Violinkonzert in D-Dur in vier Interpretationen (mit Viktor Tretiakov, Aaron Rosand, David Oistrakh und Leonid Kogan an der Violine) und einige Orchesterwerke, darunter die Sinfonie No. 5 in e-Moll und das Capriccio Italien, in zwei Einspielungen (jeweils unter der Leitung von Gennady Rozhdestvensky und Evgeny Mravinsky). Bei der Auswahl der Aufnahmen hat man sich offenbar sehr darum bemüht, die Werke in sehr guten Interpretationen zu präsentieren. In vielen Fällen hat man russischen Künstlern der Vorzug gegeben wurde, was gerade bei Tchaikovsky durchaus Sinn macht. Seine Musik ist zutiefst russisch. Ergänzt wird die Box durch zeitlose Referenzaufnahmen von Interpreten von Weltruf. So sind beispielsweise die legendären Decca-Aufnahmen sämtlicher Ballette vom Orchestre de la Suisse Romande unter Ernest Ansermet (auf sechs CDs) eines der vielen Highlights dieser Tchaikovsky Edition.

Die Aufnahmen der Edition entstanden in den Jahren 1946 bis 2006, wobei vor allem die frühen Opern mit dem einzigen Mitschnitt vorliegen, die jemals gemacht wurde. Viele dieser Raritäten waren lange Zeit nicht mehr erhältlich. Hier wurde den interpretatorisch exzellenten historischen Aufnahmen der Vorzug vor eiligen Neuaufnahmen durch zweitrangige Ensembles gegeben. Die Klangqualität aller Aufnahmen ist freilich insgesamt sehr unterschiedlich, immerhin entstanden sie innerhalb eines halben Jahrhunderts, en gros klingen die CDs allerdings erstaunlich gut, auch wenn eben einige Interpretationen höchsten audiophilen Ansprüchen nicht genügen. Gerade diese machen aber dieses Manko durch künstlerische Güte wieder wett. Das mag den Sound-Fanatiker vielleicht verärgern, künstlerisch ist mir diese Lösung allemal lieber als uninspirierte Neuaufnahmen. Überhaupt bedeutet das fast völlige Fehlen von Neuaufnahmen kein Qualitätsverlust.

Die Ausstattung der Box folgt dem Vorbild der früheren Editionen: Die stabile Box beinhaltet die 60 CDs (plus CD-Rom) in schlichten Papphüllen, die mit den diskografischen Angaben (Werk, Interpreten, Aufnahmejahr und ggf. Lizenzgeber) versehen sind. Die Hüllen sind farblich nach Gattungen (Orchesterwerke, Ballettmusiken, Konzerte, Opern, Kammermusik usw.) gegliedert. Im Deckel befindet sich eine kurze Liste der CDs mit den darauf befindlichen Werken. Etwas mager finde ich die Ausstattung der elektronischen Booklets auf der CD-Rom: Hier findet man die Liedtexte (auf Russisch in lateinischer Umschrift (!) und in englischer Übersetzung) und eine kurze Einführung zu den Werken (auf Englisch) und den wichtigsten Interpreten. Es fehlen die Libretti der Opern (es gibt lediglich Inhaltsangaben), sowie noch einmal eine Zusammenfassung der diskografischen Angaben aller CDs auf einen Blick.

Alles in allem ist die Tchaikovsky Edition eine der stärksten Brilliant-Gesamtausgaben.

Musik & Interpretation [∅]
Klang [∅]
Vollständigkeit
Ausstattung, Booklet, Design

Die Tchaikovsky Edition  ist am 8. September 2011 auf Brilliant Classics (93980) erschienen und kann im Fachhandel erworben oder bei großen Buch- und CD-Versendern wie → amazon.de und → jpc.de (Links öffnen die jeweilige Produktseite) bestellt werden.

Weitere Infos zur Edition findet man auf den englischsprachigen Produktseite:
http://www.brilliantclassics.com/release.aspx?id=FM00394943