Darf ich an dieser Stelle ehrlich sein, ohne gleich als unprofessionell zu gelten? In manch puristischen Diskussionsforen gelten dezidierte Likes und Dislikes als Tabu. Klassische Musik ist per definitionem erhaben und alle Komponisten haben ausschließlich Meisterwerke komponiert. Wer daran zweifelt oder gar frevelhaft formuliert, was er nicht mag, gilt als Ketzer. Ich glaube nicht an den automatischen Geniestreich, weder von Komponisten, noch von Interpreten. Es gibt Instrumente, die ich mehr schätze als andere, es gibt Epochen, die mich mehr sprechen als andere. Die Blockflöte ist da ein gutes Beispiel: Normalerweise kann ich mit Musik für (Block-) Flöte gar nicht viel anfangen. So mühelos und technisch makellos auch die neue Generation an Flötisten und Flötistinnen sich durch die umfangreiche Literatur für Flötenmusik spielen, so wenig spricht mich davon als Hörer dauerhaft an. Die meisten Veröffentlichungen perlen an mir ab, treffen einfach nicht meinen Nerv. Umso erstaunlicher ist es, wenn sich mal eine CD eines Flötisten für längere Zeit in meinem CD-Player festsetzt und ich einfach nicht genug von ihr hören kann. Solch eine bei mir seltene Ausnahme ist dem nun dem jungen Blockflötisten Erik Bosgraaf mit seiner neuen CD gelungen.

Der mit zahlreichen Preisen ausgezeichnete Niederländer Bosgraaf, darunter auch im Jahr 2009 der renommierte Borletti-Buitoni Trust Award für außergewöhnlich talentierte junge MusikerInnen, hat für seine neueste Veröffentlichung bei Brilliant Classics einige Blockflöten-Konzerte von Johann Sebastian Bach (1685-1750) aufgenommen. Moment einmal: Blockflöten-Konzerte von Bach? Zwar ist die Blockflöte in Bachs Musik ein allgegenwärtiges Instrument, doch explizite Solo-Konzerte für Blockflöte schrieb Bach (leider) nicht, zumindest sind keine erhalten. Die vorliegende CD enthält also bei genauerer Betrachtung Transkriptionen von geeigneten Bach-Kompositionen. Sie will die Frage beantworten, wie es hätte klingen können, wenn Bach Solokonzerte für die Blockflöte geschrieben hätte.

Das Ergebnis ist höchst erfreulich: Längst nicht alle Transkriptionen wirken so authentisch, spannend und unterhaltsam (!) wie die hier zusammengetragenen Bearbeitungen (hauptsächlich handelt es sich um adaptierte Cembalokonzerte). Das mag zum einen an den sehr guten Bearbeitungen (von Thiemo Wind, Ivan Iliev und Alessandro Pianu) liegen, das liegt aber in nicht unerheblichem Maße am makellosen, virtuos-wendigen Spiel Bosgraafs und dem seiner Mitstreiter vom Originalinstrumente-Ensemble Cordevento. Wie für Bachs Instrumental-Werke üblich, zeichnen sich diese Bearbeitungen durch geradezu jugendlichen Esprit, tänzerische Leichtigkeit und virtuose Verspieltheit aus. Das präzise, lebendige Musizieren aller Beteiligten und eben die richtige Auswahl an Werken machen aus dieser CD eine wirklich lohnenswerte Ergänzung für jede Bach-Diskografie, nicht nur weil sie eine glaubwürdige Hypothese für eine Lücke in Bachs Œuvre aufstellt, sondern auch (und vor allem) weil längst nicht jede neue Bach-Veröffentlichung so viel Freude und Hörgenuss bereitet, wie dieses auch klanglich exzellent geratenes Album. Ein echter Tipp, nicht nur für Bach- und Blockflöten-Freunde.

Die CD Johann Sebastian Bach – Concertos for Recorder von Erik Bosgraaf mit dem Ensemble Cordevento ist am 4. November 2011 auf Brilliant Classics (94296) erschienen und kann im Fachhandel erworben oder bei großen Buch- und CD-Versendern wie → amazon.de und → jpc.de (Links öffnen die jeweilige Produktseite) bestellt werden.

Inhalt:

1. Konzert für Flöte, Streicher und Basso continuo G-Dur (Arien aus Kantaten BWV 215 und 32) (bearb. von Thiemo Wind)
2. Konzert für Cembalo, Streicher und Basso continuo Nr. 4 A-Dur, BWV 1055 (für Flöte) (bearb. in B-Dur)

3. Konzert für Cembalo, Streicher und Basso continuo Nr. 2 E-Dur, BWV 1053 (für Flöte) (bearb. in D-Dur)

4. Konzert für Cembalo, Streicher und Basso continuo Nr. 8 d-moll, BWV 1059 (für Flöte)

5. Liebster Jesu, wir sind hier, BWV 731