Kurz bevor die Weihnachtstage anbrechen, möchte ich mich heute am Vorabend der Weihnachtstage– sozusagen in guter alter angelsächsischer Tradition – mit etwas ganz und gar Unweihnachtlichem beschäftigen: Oscar Wildes Erzählung „Das Gespenst von Canterville“ war nicht nur die Vorlage für zahlreiche Verfilmungen (die Bekannteste entstand 1944 mit Charles Laughton in der Rolle des Geistes), Hörspiele und Theaterstücke, sondern auch die Vorlage für eine Oper des russischen Avantgardisten Alexander Knaifel (*1943), der mit der Oper 1966 einen frühen Erfolg seiner Karriere feiern konnte, die dann aber aufgrund widriger Umstände nahezu in Vergessenheit geriet.
Knaifel gehört zur Gruppe sowjetischer Avantgardisten, die als sogenannte Chrennikows Sieben (neben Knaifel gehörten dazu auch Vyacheslav Artyomov, Edison Denisov, Sofia Gubaidulina, Elena Firsova, Dmitri Smirnov und Viktor Suslin) während des 6. Kongresses des sowjetischen Komponistenverbandes im November 1979 von dessen mächtigem Generalsekretär Tichon Chrennikow scharf kritisiert wurden. Er bezeichnete ihre Werke als »bar jedes musikalischen Gedankens, im Strom irrer Geräusche und Gekreische versunken, voll von Gebrabbel«. Was nach dieser Ächtung folgte, war ein Quasi-Berufsverbot und eine existenzielle Bedrohung der Komponisten, denen damit die Möglichkeit genommen wurde, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Pikant dabei: Mit einem ähnlich formulierten Frontalangriff hatte Chrennikow bereits im Jahre 1948 die Werke von Prokofiev, Shostakovich und Myaskovsky kritisiert und die Komponisten in Bedrängnis gebracht …
Erst mit der Perestroika Gorbatschows konnten die Werke Knaifels und die der anderen Geächteten in der UdSSR wieder aufgeführt werden. Knaifels Oper “Das Gespenst von Canterville” nach der gleichnamigen Erzählung von Oscar Wilde wurde 1966 uraufgeführt und war einer der ersten Erfolge des damals 23-jährigen Komponisten. Die vorliegende Aufnahme der vom Komponisten erstellten gekürzten Fassung für zwei Sänger und Kammerorchester ist die einzige kommerzielle Einspielung der Oper, die jemals gemacht wurde. Sie entstand 1990 mit dem Moscow Forum Theatre Orchestra unter der Leitung von Michail Jurowski und erschien ursprünglich in der Reihe Salon Russe bei Harmonia Mundi. Sie war viele Jahre vergriffen und wird nun endlich in der Brilliant Opera Collection wiederveröffentlicht und erweist sich als überaus gelungene und kurzweilige Kammeroper.
In der Rolle des Gespenstes ist der schwermütig klagende Bass Stanislav Suleimanov zu hören; die Rolle der Virginia singt die auch im Westen bekannte Sopranistin Tatiana Monogarova, die seinerzeit auch das Libretto verfasste. Man muss kein Russisch können, um von der schaurig-effektvoll gestalteten Oper fasziniert zu sein. Die schroffe, perkussive und sehr reduzierte Tonsprache Knaifels wirkt auch ohne Textverständnis ziemlich eindeutig – und eindeutig heißt in diesem Fall eindeutig schaurig. Knaifel hat sich bei seiner Oper offenbar auch von einschlägigen Filmmusiken jener Zeit inspirieren lassen und so ist man als Zuhörer von Anfang an elektrisiert von einer unterschwellig aufgebauten Suspense-Atmosphäre, in die sich immer wieder plötzlich Tempi- und Dynamik-Wechsel entladen. Das lässt den Zuhörer ein ums andere Mal ordentlich zusammenzucken — aber wegen der morbiden Lust des Gruseln schaut man ja auch Horrorfilme.
Fazit: Für Freunde zeitgenössischer Opern, die vor gelegentlichen akustischen Schockeffekten nicht zurückschrecken (sic!) ist Knaifels „Gespenst von Canterville“ eine echte Entdeckung.
Hier noch zwei kurze akustische Impressionen:
Die CD Alexander Knaifel – The Canterville Ghost des Moscow Forum Theatre Orchestra unter der Leitung von Michail Jurowski ist am 30. November 2012 auf Brilliant Classics (9295) erschienen und kann im Fachhandel erworben oder bei großen Buch- und CD-Versendern wie → amazon.de und → jpc.de (Links öffnen die jeweilige Produktseite) bestellt werden.