Dmitri Dmitriyevich Shostakovich (russisch Дмитрий Дмитриевич Шостакович, 1906–1975) gilt, neben Sergei Prokofiev, als der bedeutendste und bekannteste russische Komponist der Sowjet-Ära. Sein umfangreiches Werk deckt quasi alle Genres ab und ist ein Spiegel der gesellschaftlichen Entwicklungen der Sowjetunion. Shostakovichs Œuvre ist geprägt von der Gratwanderung zwischen seinem sich stets weiter entwickelnden, progressiven Personalstil und der scheinbaren Anpassung an der staatlich verordneten Ästhetik des sozialistischen Realismus. Die Notwendigkeit seine eigentlichen Intentionen in seinen Kompositionen zu verschlüsseln um der Gängelung durch die stalinistischen Kultur-Apparatschiks zu entgehen, prägten einen ambivalenten Stil, der die intimste Melancholie hinter dem Trivialen verbarg, der dem staatlich verordneten, vordergründigem Optimismus und Frohsinn mit unterschwelligem, beißendem Spott begegnete. Wie bei Matrjoschka-Puppen steckt Shostakovichs eigentliche Aussage oft unter einer vordergründigen Hülle.
Die nun bei Brilliant Classics erschienene Shostakovich Edition ist die bisher umfangreichste Sammlung seiner Musik auf Tonträgern, eine echte “Fast-Gesamtausgabe”: Auf 51 CDs befinden sich sämtliche Sinfonien, sämtliche Konzerte (je zwei für Klavier, Cello und Violine), sämtliche Streichquartette, sämtliche Kammersinfonien (von Shostakovich autorisierte Bearbeitungen der Streichquartette Nos. 1, 3, 4, 8 und 10 für Kammerorchester), ferner etliche weitere Kammermusik-Highlights, Sonaten für Cello, Viola und Klavier, seine bedeutenden Klavierzyklen (darunter die 24 Präludien, op. 34 und die 24 Präludien und Fugen, op. 87), Lieder, Kantaten und Romanzen, die Michelangelo-Suite, die Jazz-Suiten, Ballett-Suiten (u. a. „The Lady and the Hooligan“), zahlreiche Filmmusiken (-Suiten), Chorwerke sowie die Opern „Die Spieler“ und „Lady Macbeth von Mzensk“ und die Orchestrierung der Oper „Rothschilds Violine“ Benjamin Fleischmann. De facto fehlt kein einziges wichtiges Werk Shostakovichs, lediglich ein paar Opernfragmente, verschollene Filmmusiken sowie einige Gelegenheits- und Gefälligkeitswerke, die Shostakovich selbst als zweitrangig abtat, findet man bei dieser enzyklopädischen Sammlung nicht.
Ein großer Teil des hier zusammengefassten Materials war in der Vergangenheit bereits separat auf Brilliant Classics (beispielsweise die Sinfonien, die Streichquartette, die Kammersinfonien, die Konzerte, die Suiten usw.) veröffentlicht worden. Dabei handelt es sich um Lizenzaufnahmen von so renommierten Plattenfirmen wie EMI Classics, Capriccio Challenge Classics und Delos oder um hochwertige Eigenproduktionen. Einige Raritäten (etwa die Klavier- und Orchesterlieder) wurden in den 1980ern und 1990er in Russland aufgenommen und erscheinen nun erstmals auf Tonträgern für den internationalen Markt.
Die Aufnahmen der Shostakovich Edition entstanden zwischen 1956 bis 2008, wobei ein Großteil der Werke als digitalen Aufnahme der 1980er, 1990er und 2000er vorliegt. Die meisten Interpretationen stammen dabei von anerkannten Klangkörpern und Interpreten, vorzugsweise von russischen Künstlern, die mit Shostakovich freundschaftlich verbunden waren. Zu den zahlreichen absoluten Highlights der Box gehören ohne jeden Zweifel die Referenzaufnahmen der Sinfonien das WDR Sinfonieorchester Köln unter der Leitung von Rudolf Barshai, der Violinkonzerte mit David Oistrakh, der Suiten in der Interpretation des Nationalen Sinfonieorchester der Ukraine unter Theodore Kuchar, der Oper Lady Macbeth von Mzensk des London Philharmonic Orchestra unter Mstislav Rostropovich und der Filmmusiken in den Aufnahmen des Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin unter Michail Jurowski bzw. James Judd.
Ebenfalls echte Höhepunkte sind Raritäten wie die Fleischmann-Oper Rothschilds Violine mit dem Orchester des Kulturministeriums der UdSSR unter unter Gennady Rozhdestvensky, die Lieder, Kantaten und Romanzen mit zahlreichen russischen Sängern und die Solo-Klaviermusik-Aufnahmen von Boris Petrushansky, die Violinsonate und die Violasonate in der beeindruckenden Einspielung von Isabelle van Keulen mit Ronald Brautigam und die beiden Klavierkonzerte mit Cristina Ortiz, das Bournemouth Symphony Orchestra unter Paavo Berglund.
Eine echte Bereicherung sind auch die drei CDs mit bedeutenden Interpretationen in historischen Aufnahmen (die zwischen 1946 und 1982 hauptsächlich fürs russische Radio entstanden und über überraschend gute Klangqualität verfügen), auf denen namhafte russische Künstler wie Kirill Kondrashin, Evgeny Mravinsky, Mstislav Rostropovich und Leonid Kogan zu hören sind. Last but not least sind auch die Aufnahmen mit Dmitri Shostakovich als Pianisten – bei der Cellosonate im Duo mit Daniel Shafran und bei den Klavierkonzerten in der legendären Aufnahme mit dem Orchestre National de la Radiodiffusion Française unter der Leitung von André Cluytens – als Solist seiner eigenen Werke zu hören ist.
Das Booklet informiert auf 15 Seiten in englischer Sprache über Leben und Werk Shostakovichs; die Aufnahmedaten, etwaige Lizenzgeber und ausführende Künstler finden sich auf den jeweiligen Papphüllen der Einzel-CDs. Im Deckel der quadrischen Aufklappbox befindet sich zu leichteren Orientierung ein Inhaltsverzeichnis.
Fazit: Die Shostakovich Edition ist sowohl quantitativ, als auch qualitativ eine einzigartige Zusammenstellung, gespickt mit zahlreichen Referenzeinspielungen und Raritäten. Shostakovichs Musik ist ein faszinierender Ausschnitt der (trotz aller widrigen Umstände) progressiven Musik der Sowjetunion und darüber hinaus ein Stück in Musik gefasste Zeitgeschichte.
Die Shostakovich Edition (mit 51 CDs) ist am 28. September 2012 auf Brilliant Classics (9245) erschienen und kann im Fachhandel erworben oder bei großen Buch- und CD-Versendern wie → amazon.de und → jpc.de (Links öffnen die jeweilige Produktseite) bestellt werden.
Weitere Infos zur Shostakovich Edition und die komplette Tracklist findet man auf der englischsprachigen Produktseite:
http://www.brilliantclassics.com/release.aspx?id=FM00424463